Mondphasen und Pilzwachstum
Bei Pilzausstellungen wird verschiedentlich die Frage laut, ob die Mondphasen auf das Wachstum der Pilze einen unmittelbaren Einfluss haben. Das heißt: Gefragt wird eigentlich selten. Meistens wird behauptet. Mal das eine. Mal das andere.
Daher ist es auch eine delikate Angelegenheit, wenn wir hier über den Einfluss der Mondphasen auf das Pilzwachstum schreiben. Wer davon überzeugt ist, dass der Mondzyklus beim Pilzwachstum eine Rolle spielt, wird sich nur schwer für die gegenteilige Position gewinnen lassen. Wer Mondeinflüsse von vorneherein für spiritistischen Blödsinn hält, öffnet sich nur widerwillig einer Erfahrungsweisheit, die bisher mit Zahlenmaterial noch von niemandem hieb- und stichfest belegt worden ist. „Bei zunehmendem Mond wachsen die Pilze“, heißt es auf der einen Seite. „Alles Blödsinn. Wie soll denn der Mond die Pilze aus der Erde ziehen?“, heißt es auf der anderen Seite. Zwei unvereinbare Positionen also. Wir versuchen trotzdem eine Klärung.
Gesicherter Grund: Der Mond und die Gezeiten
Dass der Mond einen spürbaren und physikalisch plausiblen Einfluss auf die Erde ausübt, ist zumindest bei den Gezeiten, beim Wechselspiel von Ebbe und Flut, vollkommen unstrittig. Die Anziehungskraft des Mondes reicht, so gering sie
auch ist, vollkommen aus, um die beweglichsten Teile der Erdoberfläche, nämlich das Wasser der Ozeane, an der mondzugewandten und – ein wenig abgeschwächt – auch an der mondabgewandten Seite der Erde z
u einem Berg aufzutürmen (Flutberg). Diese Flutberge „wandern“ wegen der Drehung der Erde (und der Fortbewegung des Mondes) in etwa 25 Stunden einmal um
die Erde (nehmen Sie das „Wandern“ nicht allzu wörtlich. Das Wasser wandert keineswegs in einer massiven Horizontalbewegung. Lediglich der Wasserspiegel hebt und senkt sich). Daraus ergibt sich das etwa 6-stündige Wechselspiel von Ebbe und Flut.
Bis hierher war lediglich von der Erddrehung, aber noch nicht vom Mondzyklus die Rede. Dazu müssen wir einen weiteren Himmelskörper in unsere Betrachtungen einbeziehen: die Sonne. Neben dem Mond ist an der Auf- und Abwärtsbewegung des Wassers nämlich durchaus auch die Sonne beteiligt. Sie hat eine weitaus größere Masse als der Mond, ist aber auch entschieden weiter von der Erde entfernt. Daher beträgt ihr Einfluss auf die Gezeiten auch nur etwa 40% von dem des Mondes. Die beiden Einflüsse verstärken sich oder schwächen einander ab, je nachdem, wie Sonne und Mond zur Erde stehen. Stehen Mond und Sonne in einer Linie mit der Erde, wie es bei Neumond und bei Vollmond der Fall ist, dann addieren sich ihre Wirkungen (Springtide). Stehen Sonne, Erde und Mond dagegen in einem rechten Winkel zueinander, wie es bei Halbmond der Fall ist, so schwächt die Sonne die Anziehungskraft des Mondes; die Hochwasserstände fallen entsprechend niedriger aus (Nipptide).
Pilz-Gezeiten?
Und wie steht es nun mit den Pilzen? Wir wollen hier gar nicht in aller Breite diskutieren, auf welchen Ursachen ein möglicher Kausalzusammenhang von Mondphase und Pilzwachstum beruhen könnte. Diese Diskussion ist – bislang jedenfalls – ausschließlich spekulativ zu führen. Ein simpler Gravitationsmechanismus – wie wir ihn oben für die Gezeiten beschrieben haben – müsste jedenfalls zwei Maxima ergeben, z.B. eines bei Vollmond und eines bei Neumond. Das stimmt aber nicht mit der Einschätzung der „mondgläubigen“ Pilzsammler überein, die ja übereinstimmend davon berichten, das Pilzwachstum nehme mit dem Mond, also auf Vollmond hin, zu. Neben den Schwerkraftverhältnissen müssen also auch andere Faktoren mit im Spiel sein. Das Wetter natürlich – aber auch das ist (wovon man sich tagtäglich überzeugen kann) keineswegs linear abhängig von der Mondphase.
Lassen wir also die Ursachen einmal beiseite und halten wir uns ans Faktische. Dazu nähern wir uns dem Zusammenhang (wie die meisten, die sich bisher damit befasst haben) erst einmal von seinen Auswirkungen, also vom Ende her: Wenn ein wie auch immer gearteter Zusammenhang zwischen Mondphase und Pilzwachstum besteht, dann müsste er sich ja in Fundstatistiken und -Protokollen im Laufe der Jahre signifikant niederschlagen. Solche Protokolle, die über viele Jahre hin verlässlich geführt worden sind, gibt es tatsächlich: Als Fundprotokolle der größeren Pilzberatungsstellen.
Ursula und Fritz Hirschmann sind Pilzberater in Nürnberg. Sie waren bei Pilzausstellungen mit den gleichen Fragen (oder Behauptungen) konfrontiert wie wir. Sie hatten den Verdacht, dass es sich bei dem behaupteten Zusammenhang von Mondphase und Pilzwachstum lediglich um ein „Hirngespinst“ handelte. Doch sie wollten der Sache genauer auf den Grund gehen und beschlossen daher, insgesamt 1.800 Protokolle aus 32 Jahren Pilzberatung einmal mit Blick auf den Mond auszuwerten.
Ihre Ergebnisse haben sie 1999 in den Jahresmitteilungen der Naturhistorischen Gesellschaft Nürnberg veröffentlicht (Unser Mond und sein Einfluss auf das Pilzwachstum – Lassen sich Zusammenhänge nachweisen? Natur und Mensch 1999, 79-82). Sie waren selbst überrascht: Etwa beim ersten Mondviertel lag tatsächlich ein Pilzmaximum. Ihr Fazit: „Der Zusammenhang zwischen Mondphasen und Pilzwachstum ist erwiesen!“ Als erfahrene Pilzgänger betonten sie freilich, dass das Wetter noch immer die wichtigere Einflussgröße bleibt. Und als Skeptiker legten sie ihre Ergebnisse der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften zur kritischen Prüfung vor. Als erster bezog J. Nienhuys 2001 Stellung (das Manuskript ist nicht veröffentlicht) – und verwarf den behaupteten Zusammenhang.
Ausführlicher hat sich dann Volker Guiard mit dem Beitrag der Hirschmanns befasst und ihrer Schlussfolgerung wenige Jahre später in der Zeitschrift für Anomalistik 2 (2002, S. 292-307) aus statistischer Sicht vehement widersprochen: Ich zitiere kurz aus seiner Zusammenfassung (den vollständigen Artikel können Sie hier nachlesen): „Eine Reanalyse [gemeint ist eine neuerliche Analyse; H.-J.S.] der Originaldaten mittels der SAS-Prozeduren GAM und GENMOD ergibt, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen der Mondphase und dem Wachstum von Pilzen besteht. Nur der Wochentag, das Kalenderjahr und der Tag innerhalb der Saison erwiesen sich als signifikante Einflussgrößen für die Zahl der bei den Pilzberatungsstellen abgelieferten Pilze. Werden die Daten in drei Subgruppen zu jeweils etwa 10 Jahren getrennt analysiert, zeigen sich einige signifikante scheinbare „Mondeffekte“, die jedoch bezüglich der relevanten Mondphase von Dekade zu Dekade nicht stabil sind. Zusammenfassend handelt es sich bei den angeblichen Mondeffekten mit hoher Wahrscheinlichkeit um Artefakte, die auf das gleitende Mittelungsverfahren sowie die eventuelle menschliche Gewohnheit zurückgehen, in Abhängigkeit von der Mondphase Pilze zu sammeln.“
Wenige Jahre darauf hat sich auch Dieter Richer aus Berlin mit dem Zusammenhang von „Pilzwachstum und Mondphasen“ beschäftigt (so der Titel seines Beitrags im Tintling 2 [2006] 30-33). Richer notiert seit mittlerweile 31 Jahren die Pilzfunde, die er zusammen mit seiner Frau nach Hause trägt. Er differenziert dabei die wichtigeren Speisepilze (Pfifferlinge, Maronen, Krause Glucke und Steinpilze) nach Arten. Alle übrigen Funde (ca. 15 Arten, von der Birkenrotkappe über den Frauentäubling bis hin zum Perlpilz) hat Richer summarisch als „Mischpilze“ erfasst.
Richer macht kein Hehl daraus, dass er vom Mondeinfluss auf das Pilzwachstum nicht viel hält. Seine Zahlen geben ihm auch Recht, so lange man nur Krause Glucke, Maronen, Pfiffer und Mischpilze betrachtet. Die Schwankungen über den Mondzyklus sind generell nicht sehr stark ausgeprägt und ergeben keinen signifikanten Schwerpunkt. Eine Ausnahme aber gibt es und Richer gibt sie auch unumwunden zu: „Als zunächst überraschend sind die […] Ergebnisse für die Steinpilze anzusehen. Sie zeigen tatsächlich einen ausgeprägten Verlauf […], allerdings [ganz gegen die landläufige Behauptung] mit einem Minimum bei Vollmond und einem Maximum bei Neumond“ (S. 32f.). Eine plausible Erklärung dafür hat auch Richer nicht – „es sei denn, die dunklen Nächte um Neumond wirken sich speziell bei den Steinpilzen besonders wachstumsfördernd aus.“
Und das Fazit?
Damit sind wir im Grunde nicht viel schlauer als zuvor. Bei den meisten Pilzen scheint es keine signifikanten Zusammenhänge der gefundenen Pilzmengen mit den Mondphasen zu geben. Wo es im Einzelfall doch auffällige Verläufe gibt, liegen die Schwerpunkte ganz gegen die landläufige Behauptung nicht auf den Tagen um Vollmond, sondern auf Neumond.
Angeblich soll Winston Churchill gesagt haben, dass er nur der Statistik glaube, die er auch selbst gefälscht habe (zur strittigen Autorenschaft siehe u.a. hier). 32 bzw. 31 Jahre kontinuierlicher Datenerfassung mit jeweils annähernd 2.000 Einzeldatensätzen bieten freilich ein durchaus aussagefähiges Fundament für eine statistische Auswertung. Und in allen Fällen ist durchaus anzunehmen, dass die Pilzsammler auf maximalen Ertrag aus waren. Gleichwohl bleiben wichtige Fakten in den Fundprotokollen unberücksichtigt. Die Funde sind keinen festen Untersuchungsflächen zuzuordnen; sie spiegeln die mehr oder minder zufälligen Exkursionsrouten der Pilzsammler, die mal so, mal so gelegen haben können. Zwar sollte ein eventueller Einfluss des Mondzyklus grundsätzlich an jedem Ort der Welt gleich ausfallen. Ob und in welchem Umfang daneben aber auch andere Faktoren (wie die jeweils abgegangenen Sammelgebiete, der Einfluss des Wetters, die jeweilige Boden- und Luftfeuchtigkeit im Zusammenspiel mit der Boden- und Lufttemperatur) in den Fundzahlen ihre Spuren direkt (oder indirekt über die wechselnde Aktivität der Pilzsammler) hinterlassen haben, lässt sich in keinem Fall mehr rekonstruieren, jedenfalls nicht sauber herausrechnen, um einen eventuellen Mondeinfluss unbeeinträchtigt analysieren zu können.
Damit stochern wir trotz ausgefuchstester statistischer Methoden im Nebel. Selbst erfahrene Pilzgänger kennen das Phänomen: Alle bekannten Voraussetzungen für gutes Pilzwachstum treffen zu, aber die Pilze bleiben aus – manchmal eine ganze Saison lang. Dafür stehen zu einem anderen Zeitpunkt an gar nicht passender Stelle plötzlich Dutzende von Steinpilzen. Oder nehmen wir Pfifferlinge. Jahrelang waren sie im unmittelbaren Würzburger Umfeld überhaupt nicht mehr zu finden. 2007 traten sie plötzlich wieder in Massen auf. Und 2008 waren sie wieder verschwunden.
Kurz: Auch wenn wir vieles über die Wachstumsvoraussetzungen der Pilze wissen, bis ins letzte Detail erklären oder gar vorhersagen können wir nicht, wann es Pilze gibt und wann nicht. Solange wir darüber nicht deutlich mehr wissen, sollten wir den Einfluss des Mondes nicht behaupten, aber auch nicht grundsätzlich ausschließen. Dass wir ihn nicht verstehen muss ja nicht bedeuten, dass es ihn nicht gibt.
Stand Dezember 2008. Copyright 2008 Pilzfreunde Mainfranken. Text und Grafik: Dr. Hans-Jürgen Stahl